Nach den Strapazen des Tages war er so erschöpft, dass er ohne über etwas Konkrets nachdenken zu können, einfach nur den Spuren des nach unten fließenden Regenwassers folgte. Allein die Gesellschaft, in der er sich befand, lies ihn die letzte Energie aufbringen, um nicht sofort in seinem tiefen Ledersessel einzuschlafen. Er nahm sein Cognacglas in die Hand und riss sich von dem hypnotisierenden Schauspiel des Nieselregens am Fenster los.
„Lene“, wandte er sich an die 45 Jahre alte, schlanke und durchaus attraktive Frau im Sessel neben sich, „ich hoffe, der Schritt, den wir heute gegangen sind, hat ein ausreichend starkes Signal nach Moskau und Kiew gesendet.“
Die finnische Regierungschefin mit den hellblonden, zu einem dicken Zopf gebundenen Haaren, war gewiß ebenso müde, wie der Generalsekretär.
Seitdem sie vor wenigen Tagen mit ihrem schwedischen Kollegen Gustaf Lundkvist in Kuusamo gesehen hatte, wie ernst die Sicherheitslage an der Grenze zu Russland war, hatte sie kaum mehr geschlafen. Sobald sie in der finnischen Hafenstadt Oulu angekommen waren, hatte Lundkvist sie an ihrem Dienstwagen abgeholt. Zwei Stunden unterhielten sie sich in einem Konferrenzraum des Flughafenterminals unter vier Augen. Dabei konnten beide aussprechen, was ihnen auf dem Rückweg von ihrem Inspektionstermin unweit der Grenze vollkommen klargeworden war. Anschließend bestieg Lene Mattila ihren Regierungshubschrauber in Richtung Helsinki, Lundkvists Flugbereitschaft brachte ihn und seinen Stab direkt nach Stockholm. Auf den unterschiedlichen Wegen, die die Verfassungen der beiden Länder vorschrieben, gelang es beiden, den militärischen Ernstfall feststellen zu lassen. In verkürzten Verfahren stimmten sowohl das Parlament Schwedens, der Riksdag, als auch das finnische Parlament Eduskunta den Vorlagen ihrer Regierungen zu. Die offiziell ausgefertigten Beschlüsse gingen abschließend unterschrieben und mit großen Siegeln versehen auf das europäische Festland. Parallel dazu liefen in Bodø bereits die Vorbereitungen zu einer außerordentlichen Sitzung des NATO-Rates, so dass die Einberufung der Sitzung sehr kurzfristig erfolgen konnte. Keine vierzehn Tage nach den Eindrücken des Truppenbesuches stimmte der Rat ab, und im Ergebnis waren Finnland und Schweden die Mitgliedsstaaten dreißig und einunddreißig des nordatlantischen Verteidigungsbündnisses.
Lene Mattila nahm ihr Glas. „Ja, wir müssen es hoffen.“, sagte sie. „Wir müssen hoffen, dass die russische Präsidentin und ihre Militärs erkennen, dass sie sich mit den Falschen anlegen. Danach bleibt uns nur noch, darauf zu vertrauen, dass wir das Richtige getan haben und nun stark genug sind. Nicht wahr, Gustaf?“
Sie schaute auf Gustaf Lundkvist, ihren schwedischen Amtskollegen, der sich nach dem gemeinsamen Arbeitsessen der Delegationen gemeinsam mit deVries und Mattila in die Rooftop-Bar zurückgezogen hatte. Vor ihnen lag noch die für den frühen Morgen anberaumte Pressekonferenz.
„Lundkvist sieht aus wie der Tod.“, dachte Lene Mattila. Tatsächlich war der 61-jährige in den vergangenen Tagen scheinbar hundertmal schneller gealtert, als ein normaler Arbeitnehmer. Seine Augen waren tief eingefallen und darunter waren Ringe die fast die gesamte Wangenpartie einnahmen. Lundkvist schien ihre Gedanken zu erraten.
„Vierzehn Tage Arbeit und nur vierzehn Stunden Schlaf, das geht nicht spurlos an einem alten Ministerpräsidenten vorüber.“, witzelte er. „Ich hoffe, morgen früh sehe ich etwas vorzeigbarer aus, ansonsten müsst ihr beiden die Pressekonferenz allein bestreiten. Unterdessen zeigte die große Designeruhr über der Bar Mitternacht an. Lundkvist hob als letzter sein Glas und stieß mit Mattila und deVries an. „Auf den Frieden!“
„Auf den Frieden!“ - Die drei Politiker konnten nur hoffen, dass man im Rest der Welt mit den gleichen guten Wünschen anstieß. Der 24. Dezember war gekommen. Es war Heiligabend in Norwegen.
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